Einführung
Nicht nur Länge und Lage der Arbeitszeit bergen Gefährdungspotenziale, sondern auch die Flexibilität. Denn die Arbeitszeit vieler Beschäftigter ist nicht absolut starr, sondern beinhaltet verschiedene Aspekte von Flexibilität, die meist aus betrieblichen Gründen erforderlich sind. Dies verhindert die Verlässlichkeit, Vorhersehbarkeit und damit Planbarkeit von Arbeitszeit einerseits und erhöht die Variabilität andererseits. So gehen flexible Verfügbarkeitsanforderungen, die an Beschäftigte gestellt werden, häufig mit einer schlechteren Work-Life-Balance (ARLINGHAUS et al., 2019) und Beeinträchtigungen des Schlafs und der Gesundheit einher (AMLINGER-CHATTERJEE, 2016; NICOL & BOTTERILL, 2004; VAHLE-HINZ & BAMBERG, 2009). Wird Beschäftigten Arbeitszeitautonomie eingeräumt, kann dies gesundheitsförderlich sein, insbesondere, da es die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben verbessern kann (ARLINGHAUS et al., 2019; NIJP et al., 2012). Allerdings kann zeitflexibles Arbeiten auch zur Gefährdung werden, da es zur Entgrenzung der Arbeitszeit in Bezug auf ihre Länge und Lage kommen kann. Ähnliches gilt für Telearbeit bzw. Homeoffice. Arbeitszeitliche Flexibilitätsanforderungen können also sehr vielfältig sein. Im Folgenden werden Überstunden, Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Arbeit auf Abruf, erweiterte Erreichbarkeit, Variabilität von Arbeitszeit, Vorhersehbarkeit/Planbarkeit/Verlässlichkeit von Arbeitszeit sowie Vertrauensarbeitszeit und Telearbeit/Homeoffice betrachtet.
Vor dem Hintergrund der zunehmend digitalisierten Arbeitswelt ist die Flexibilisierung von Arbeitszeit eine zentrale Herausforderung für die Arbeitszeitgestaltung der Zukunft. Arbeitszeitflexibilität kann dabei einerseits den Wunsch von Beschäftigten nach Arbeitszeitsouveränität abbilden, z. B. durch erweiterte zeitliche Handlungsspielräume. Andererseits kann Arbeitszeitflexibilität auch beim Unternehmen liegen und die variable Verfügung über Personal- und Zeitressourcen in Abhängigkeit von betrieblichen Erfordernissen beschreiben. Flexibilitätsmöglichkeiten der Beschäftigten und Flexibilitätsanforderungen an die Beschäftigten haben dabei unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Beschäftigten (AMLINGER-CHATTERJEE & WÖHRMANN, 2017). Flexibilitätsmöglichkeiten erlauben den Beschäftigten, Einfluss auf die tägliche Arbeitszeit und auch längere Freizeitblöcke zu nehmen und somit je nach Ausmaß der Flexibilität ihre Arbeitszeit an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen. Siehe hierzu auch das Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“ (ROTHE et al., 2017).
Überstunden/Mehrarbeit
Überstunden bzw. Mehrarbeit sind im Folgenden definiert als die Überschreitung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit. Das Ausmaß der Überstunden ergibt sich damit aus der Differenz zwischen tatsächlicher Arbeitszeit und vertraglich vereinbarter Arbeitszeit. Es ist davon auszugehen, dass für die große Mehrheit der Beschäftigten diese tatsächlich leicht um die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit schwankt und nicht in jeder Woche exakt übereinstimmt. In Deutschland macht fast die Hälfte der Beschäftigten mindestens 2 Überstunden in der Woche ‒ fast ein Viertel der Beschäftigten sogar mehr als fünf (BACKHAUS et al., 2018; BAuA, 2016).
Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, erweiterte Erreichbarkeit und Arbeit auf Abruf
Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft werden meist dazu genutzt, anfallende Arbeit außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit der Beschäftigten flexibel zu bewältigen. Etwa 7 % der Beschäftigten in Deutschland leisten Bereitschaftsdienst, etwa 8 % Rufbereitschaft (BAuA, 2016). Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft unterscheiden sich zum einen darin, wo sich die Beschäftigten während der Bereitschaftszeit aufhalten. Beim Bereitschaftsdienst sind Beschäftigte angewiesen, sich innerhalb oder außerhalb des Betriebs an einem durch den Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, um bei Bedarf die Arbeitstätigkeit unverzüglich aufnehmen zu können (BAG, 10.01.1991 – 6 AZR 352/89). Solange sie nicht tätig werden müssen, dürfen sich Beschäftigte allerdings ausruhen oder auf andere Art beschäftigen. Bereitschaftsdienste zählen unabhängig davon, in welchem Ausmaß Beschäftigte währenddessen tätig werden, zur Arbeitszeit. Anders ist dies im Fall der Rufbereitschaft, die zur Ruhezeit zählt. Beschäftigte dürfen während Zeiten der Rufbereitschaft ihren Aufenthaltsort selbst wählen (BAG, 31.01.2002 – 6 AZR 214/00). Lediglich jene Zeiten der Inanspruchnahme während der Rufbereitschaft zählen zur Arbeitszeit. Rufbereitschaft darf allerdings nur angeordnet werden, wenn in der Regel Arbeit nur in Ausnahmefällen anfällt.
Im Gegensatz zu Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft stellt erweiterte bzw. ständige Erreichbarkeit eine unregulierte Form arbeitsbezogener Erreichbarkeit dar, die genutzt wird, um Arbeitsbelange zu organisieren oder zur Erledigung einer Arbeits-aufgabe aufzufordern. Dabei kann die Kommunikation an sich schon die Bewältigung einer Arbeitsaufgabe darstellen. In Deutschland wird von fast einem Viertel der Beschäftigten erwartet, auch in der Freizeit für dienstliche Belange erreichbar zu sein. 12 % werden tatsächlich häufig in ihrem Privatleben aus arbeitsbezogenen Gründen kontaktiert (BACKHAUS et al., 2018).
Eine extreme Form der Flexibilisierung der Arbeitszeit, ist die Arbeit auf Abruf. Die Abrufarbeit ist arbeitsvertraglich festgelegt. Dabei richtet sich die Arbeitszeit ausschließlich nach dem Arbeitsanfall und es kommt zu einer hohen Variabilität der Arbeitszeiten. In Deutschland geben etwa 7 % der Beschäftigten an, auf Abruf zu arbeiten (BAuA, 2016). Zeitliche Flexibilitätsanforderungen gehen häufig mit vermehrten gesundheitlichen Beschwerden einher (vgl. Tab. 10.3-1 und 10.3-2).
Gesundheitsbeschwerden | Arbeit auf Abruf1 | Bereitschaftsdienst1 | Rufbereitschaft1 | |||
---|---|---|---|---|---|---|
ja | nein | ja | nein | ja | nein | |
Rücken-, Kreuzschmerzen | 60 | 50 | 56 | 50 | 57 | 50 |
Schlafstörungen | 39 | 33 | 39 | 33 | 37 | 33 |
Müdigkeit, Erschöpfung | 60 | 52 | 60 | 53 | 58 | 53 |
Niedergeschlagenheit | 31 | 24 | 26 | 24 | 24 | 24 |
Körperliche Erschöpfung | 50 | 39 | 46 | 39 | 45 | 39 |
Angaben in Prozent
1 mindestens einmal im Monat
Gesundheitsbeschwerden | Erwartung Erreichbarkeit | Kontaktierung | ||
---|---|---|---|---|
trifft zu | trifft nicht zu bzw. teils/teils | häufig | manchmal/ selten/nie | |
Rücken-, Kreuzschmerzen | 57 | 49 | 62 | 49 |
Schlafstörungen | 42 | 31 | 47 | 32 |
Müdigkeit, Erschöpfung | 60 | 51 | 66 | 51 |
Niedergeschlagenheit | 29 | 23 | 34 | 23 |
Körperliche Erschöpfung | 48 | 37 | 53 | 38 |
Angaben in Prozent
Variabilität und Vorhersehbarkeit von Arbeitszeit
Wenn nicht immer zu gleichen Zeiten oder auch unterschiedlich lange am Tag oder in der Woche gearbeitet wird, ist die Variabilität der Arbeitszeit erhöht. Zu einer erhöhten Variabilität der Arbeitszeiten kommt es also z. B. bei Rufbereitschaft und bei flexibel gestalteten Arbeitszeiten. Variabilität der Arbeitszeit liegt auch vor, wenn der Schichtrhythmus nicht fest bzw. wiederkehrend ist.
Eine wichtige Rolle kommt dabei der Vorhersehbarkeit der Arbeitszeit zu. 14 % der Beschäftigten in Deutschland erleben häufig kurzfristige Änderungen der Arbeitszeit. Fast ein Drittel davon sogar erst am selben Tag (BACKHAUS et al., 2018). Arbeitszeiten mit hoher Variabilität sind daher auch häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht verlässlich sind und Arbeits- und arbeitsfreie Zeiten sich nicht gut im Voraus planen lassen.
Im Allgemeinen erhöht sich bei steigender Variabilität der Arbeitszeiten das Risiko für Schlafstörungen, Magen- und Darmbeschwerden, psychovegetative Beschwerden, innere Unruhe, Nervosität sowie familiäre und soziale Beeinträchtigungen. Auch das Unfallrisiko steigt durch variable Arbeitszeiten deutlich (NACHREINER et al., 2019).
Zeitliche Handlungsspielräume der Beschäftigten
Zeitliche Handlungsspielräume (z. B. Gleitzeit, Wahlarbeitszeit, Vertrauensarbeits-zeit) und auch Telearbeit/Homeoffice ermöglichen es Beschäftigten, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten, um sie mit ihren privaten Bedürfnissen zu vereinbaren. Allerdings bergen diese zeitlichen Handlungsspielräume auch Gefährdungspotenzial, wenn sie dazu führen, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit in Bezug auf die Länge und die Lage ausdehnen, z. B. um eine zu hohe Arbeitsmenge zu bewältigen. Überlange Arbeitszeiten und Arbeit außerhalb der Regelarbeitszeit – bei vielen Beschäftigten z. B. abends oder am Wochenende können die Folge sein.
39 % der Beschäftigten in Deutschland haben viel Einfluss darauf, wann sie ihre tägliche Arbeit beginnen oder beenden und 45 % haben viel Einfluss darauf, wann sie sich mal ein paar Stunden frei nehmen (BACKHAUS et al., 2018). In 2017 hatten etwa 12 % der Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber Telearbeit oder Homeoffice vereinbart (WÖHRMANN et al., 2020).
Die Analysen der BAuA-Arbeitszeitbefragung 2015 (BAuA, 2016) von zeitlichen Handlungsspielräumen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen zeigen hierzu weiterhin, dass Beschäftigte in der Industrie insgesamt den größten Einfluss und Beschäftigte im Handwerk den geringsten Einfluss auf ihre Arbeitszeit haben. Zum Beispiel haben 45 % der Beschäftigten in der Industrie (sehr) viel Einfluss auf ihren Arbeitsbeginn und ihr Arbeitsende, während dies nur auf ein Viertel der Beschäftigten im Handwerk zutrifft. Im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungsbereich haben jeweils fast vier von zehn Beschäftigten (sehr) viel Einfluss auf ihren Arbeitsbeginn und ihr Arbeitsende (siehe Tab. 10.3-3). Beschäftigte mit (sehr) viel Einfluss auf ihren täglichen Arbeitsbeginn und ihr Arbeitsende haben seltener gesundheitliche Beschwerden.
Gesundheitsbeschwerden | Einfluss auf Zeitpunkt von Arbeitsbeginn und -ende | ||
---|---|---|---|
(sehr) wenig | mittel | (sehr) viel | |
Rücken-, Kreuzschmerzen | 57 | 49 | 44 |
Schlafstörungen | 38 | 33 | 29 |
Müdigkeit, Erschöpfung | 58 | 54 | 47 |
Niedergeschlagenheit | 28 | 24 | 19 |
Körperliche Erschöpfung | 46 | 42 | 31 |
Angaben in Prozent